schwangere Frau

Praxisort „verbandliche Bildungsarbeit“

Wo Familienbildung politische Bildung ist

Beitrag von Laura Schudoma und Annette Seier in der "Stimme der Familie", Ausgabe 01/2020

"Wir beobachten nach wie vor eine strukturelle Rücksichtslosigkeit von Gesellschaft und Wirtschaft gegenüber Familien."

Das KönzgenHaus in Haltern am See – im Übergang von durch Arbeiterschaft geprägtem Ruhrgebiet in das Münsterland – ist eine Heimvolkshochschule der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) und der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ). Seit über 70 Jahren besteht das KönzgenHaus als verbandliche Bildungsstätte und richtet sich mit seinem Angebot an Arbeitnehmer*innen und ihre Familien. Dem KönzgenHaus zugeordnet ist das Familienpädagogische Institut der KAB Deutschland als Clearingstelle für Familienbildung und Familienpolitik des Verbandes.

Eines unserer Hauptaufgabenfelder ist die Bildungsarbeit für und mit Familien: Es geht um politische Bildungsarbeit für und mit Familien. Anders als klassische Eltern- und Familienbildungsangebote, die „in erster Linie [...] die Erziehungskompetenzen der Eltern verbessern und dadurch die gesunde Entwicklung von Kindern unterstützen“ (Kadera/Minsel 2018, S. 1256), rücken in unseren Kursen Fragen nach gesellschaftlichen Strukturen, nach Verteilung, Ungerechtigkeitserfahrungen, Partizipation, Empowerment und Demokratie in den Vordergrund. Ausgangspunkt der Bildungsarbeit ist die nach wie vor gespaltene Gesellschaft in Arm und Reich, Teilhabend und Sprachlos, Wissend und Ahnend, Bevorzugt und Benachteiligt, Aktiv und Passiv. In der politischen Bildungsarbeit gilt unsere Option für die Menschen am Rande. Antrieb ist uns dabei das Streben nach Gerechtigkeit. Als verbandliche Bildungsstätte arbeiten wir mit Menschen, die aus ihrem ehrenamtlichen Engagement heraus Gesellschaft verändern und sich politisch auseinandersetzen möchten. Sie sind dabei in ihrer Lebenswelt mit allerlei Fragen konfrontiert, die eine gerechte Gestaltung von Arbeitswelt, ein gutes Leben in und mit Familie sowie ver- bandliches Engagement betreffen. Damit ergibt sich per se eine enge Verbindung von Gesellschaft, Arbeit, Politik und Familie.

Das Thema Familie ist politisch.

Familien übernehmen in unserer Gesellschaft bestimmte Funktionen. Im Sinne der Systemtheorie ist Familie (hier stark verkürzt) ein Teil- oder Subsystem, das eine Funktion hat, um das Gesamtsystem zu erhalten. Die einzelnen Subsysteme interagieren für diesen Erhalt miteinander, sind im ständigen Austausch.

Die Funktionen der Sozialisation und der sog. sozialen Platzierung machen deutlich, wie gesellschaftliche Strukturen auch durch Familie aufrechterhalten werden können (vgl. Dunkake 2010, S. 51ff). Hinzu kommt, dass die von Familien erbrachten Leistungen „die unsichtbare [...] private Seite des Erwerbssystems und des Sozialstaates [sind], ohne die beide – zumindest unter gegenwärtigen Bedingungen der meisten Industriegesellschaften – nicht auskommen würden. Familie ist somit die Vorbedingung geldwerter Arbeit, indem sie zum einen Kinder als künftige Arbeitskräfte großzieht und zum andern für die tägliche Reproduktion und Regeneration der Erwachsenen sowie für die Pflege alter Familienangehöriger einen erheblichen Anteil leistet“ (Jurczyk 2014, S. 133).

In unserer Bildungsarbeit schauen wir genauer auf diese Strukturen und versuchen auszumachen, an welchen Punkten Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten (re-)produziert und erhalten werden. Wir beobachten nach wie vor eine strukturelle Rücksichtslosigkeit von Gesellschaft und Wirtschaft gegenüber Familien, wie es der Soziologe Franz-Xaver Kaufmann bereits Mitte der neunziger Jahre im fünften Familienbericht treffend beschrieb. Das betrifft familienpolitische Geldleistungen, Vereinbarkeitsregelungen und Chancengerechtigkeit. So machen wir in unseren Seminaren immer wieder deutlich, dass beispielsweise seit dem Verfahren der Günstigerprüfung bzw. dem „Optionsmodell“ Kindergeld/Kinderfreibetrag, das gezahlte Kindergeld keine reine Transferzahlung mehr ist und damit keine Förderleistung im eigentlichen Sinne, sondern ein Teil des Betrags eine Rückerstattung für zu viel gezahlte Steuern ist. Vom Freibetrag profitieren gleichzeitig besonders Familien mit höherem Einkommen.

„Ziel von nachhaltiger Familienpolitik sollte es sein, ‚jene sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen zu schaffen, die es der nachwachsenden Generation ermöglichen, in die Entwicklung und Erziehung von Kindern zu investieren, Generationensolidarität zu leben und Fürsorge für andere als Teil der eigenen Lebensperspektive zu interpretieren' “

Oder wir bemängeln immer wieder, dass Eltern aufgrund unterschiedlicher Einkommen, bestimmter Rollenmuster und mangelnder Betreuungsmöglichkeiten keine tatsächliche Wahlfreiheit und damit kaum Möglichkeiten einer gerechten Vereinbarkeit haben.
Ziel von nachhaltiger Familienpolitik sollte es sein, die Strukturen und Systeme genau zu analysieren und „jene sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen zu schaffen, die es der nachwachsenden Generation ermöglichen, in die Entwicklung und Erziehung von Kindern zu investieren, Generationensolidarität zu leben und Fürsorge für andere als Teil der eigenen Lebensperspektive zu interpretieren (BMFSFJ 2005, S. 5). Dabei geht es um horizontale wie auch vertikale Gerechtigkeit, also um den Ausgleich ökonomischer Aufwendungen, keine Benachteiligung oder Beeinträchtigung der Partizipation in unterschiedlichen Lebensbereichen durch die Entscheidung für Kinder, sowie Herstellung von Chancengleichheit für alle Kinder unabhängig von Bildungshintergrund oder kulturellem Milieu (vgl. Peuckert 2008, S. 353).

„Auch heute noch bedeuten Kinder für einige Familien ein Armutsrisiko. In Paarfamilien hängt die finanzielle Absicherung der Kinder in vielen Fällen von der Berufstätigkeit beider Eltern ab, während die Betreuungslandschaft weiterhin nicht ausreichend ausgebaut ist. “

In alleinerziehenden Familien (was am häufigsten Frauen betrifft), ist die Armutsgefährdung vom Beschäftigungsumfang der Mutter abhängig. „Ist eine alleinerziehende Mutter nicht erwerbstätig, wachsen ihre Kinder fast immer in einer dauerhaften oder wiederkehrenden Armutslage auf (96 Prozent)“ (Bertelsmann Stiftung 2018).

Diese gesellschaftliche Realität veranlasst uns dazu, unsere verbandspolitische Arbeit und unsere Bildungspraxis eng zu verzahnen.

Als Familienpädagogisches Institut der KAB beobachten wir die aktuellen Entwicklungen der Familienpolitik, positionieren uns und weisen auf – die immer wieder auch – skandalösen Zustände und Entwicklungen für Familien hin. In unseren Seminaren treffen wir auf die Menschen, die diese Zustände in der Realität bewältigen müssen. Es kommt die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, die ALG II empfängt, obwohl sie eine Teilzeitstelle hat. Oder die Familie mit vier Kindern, die trotz der Vollzeitstelle des Vaters nicht genug Geld hat, sich einen Familienurlaub im Jahr zu leisten. Damit begegnen wir Lebenswirklichkeit und einem großen Schatz an Erfahrungswissen. Dieses Erfahrungswissen der Teilnehmer*innen ist die Basis all unserer Bildungsveranstaltungen; wir informieren, verdeutlichen Zusammenhänge, moderieren, ermutigen und qualifizieren dieses Erfahrungswissen in Handlungswissen. Im Sinne Paulo Freires Dreischritt bedeutet das: Die Teilnehmer*innen identifizieren ihre exemplarischen Themen – gemeinsam versuchen wir diese zu verstehen, einzubetten in Zusammenhänge, kritisch zu beurteilen und schließlich Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.

Kurz: gemeinsam wollen wir sehen, urteilen und handeln.

Die Auseinandersetzung mit Gesellschaft, die Beurteilung von Strukturen und das Diskutieren von Handlungsmöglichkeiten mit anderen Teilnehmer*innen, die ähnliche Erfahrungen machen, ist ein erster Schritt hin zu Ermutigung, Handlung und Teilhabe. Es entwickelt sich Vertrauen zueinander durch die Gemeinsamkeit in der Gruppe. Der Schutz der Gruppe und des Seminarraums ermutigt sie zu einem ersten Hinterfragen der Strukturen, in denen sie sich bewegen. Unterstützt wird dieses Gefühl des Aktivwerdens in Gemeinschaft durch die Möglichkeit unserer Bildungsstätte, Kurse mit Übernachtung und damit über mehrere Tage hinweg anbieten zu können. Die Teilnehmer*innen haben Anteil an der Organisation des Kurses, dürfen mitbestimmen und gestalten. Und da wir von Familienbildung sprechen, sind auch die Kinder Teil des Seminars. Meist in der Betreuung in Gruppen, in denen auch sie wertvolle Erfahrungen der Wertschätzung und Anerkennung machen und Gemein- schaftssinn entwickeln. Die Bestärkung, die alle Familienmitglieder erfahren, ist Ausdruck unserer Vorstellung von gelungener politischer Bildung.

Ein besonderes Interesse unserer Arbeit gilt der Anerkennung von Familie in all ihren Formen. Dort, wo dauerhaft Verantwortung füreinander übernommen wird, wo Wertschätzung und Anerkennung gelebt werden und dort, wo Erwachsene mit Kindern zusammenleben, also da, wo über Generationen hinweg miteinander gelebt und Alltag geteilt wird – da ist für uns Familie. Familie und Familienpolitik denken wir vom Kind aus. Hier muss Gerechtigkeit ansetzen, hier muss Chancengleichheit geschaffen werden – unabhängig von der Lebensgestaltung und Beziehungsform der Eltern oder ihren Einkünften.

„Dort, wo dauerhaft Verantwortung füreinander übernommen wird, wo Wertschätzung und Anerkennung gelebt werden und dort, wo Erwachsene mit Kindern zusammenleben, also da, wo über Generationen hinweg mitei- nander gelebt und Alltag geteilt wird – da ist für uns Familie.“

Da besonders häufig Kinder aus alleinerziehenden Familien von Armut bedroht sind, setzen wir uns für die Interessen der alleinerziehenden Familien und besonders der alleinerziehenden Frauen in familienpolitischen Gremien ein. Beispielsweise in der Arbeitsgemeinschaft Interessenvertretung Alleinerziehender (AGIA), gemeinsam mit den katholischen Frauenverbänden sowie der katholischen Familienbildung, die wiederum mit weiteren Interessenverbänden kooperiert und sich vernetzt. Bei dieser Arbeit profitieren wir von unserem reichen Erfahrungsschatz aus der praktischen Bildungsarbeit, aus dem wir wiederum unsere politischen Forderungen generieren, die wir in Gremien vertreten.

Damit können wir das Bindeglied darstellen zwischen Lebenswirklichkeit und Politik und einen Dialog fördern – in der Überzeugung, dass politische Bildung Teilhabe und Partizipation in der Demokratie fördert und damit gesellschaftliche Veränderung möglich macht. Wir bringen uns auf vielerlei Ebenen als Interessenvertretung unserer Teilnehmer*innen ein und möchten sie dadurch ermutigen und befähigen, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen, zu vertreten und damit Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit zu entwickeln. Durch das Flankieren unserer Bildungsarbeit mit der verbandlichen Lobbyarbeit als Familienpädagogisches Institut der KAB betonen wir die Verantwortung, die wir wahrnehmen und verstärken das Vertrauen unserer Teilnehmer*innen in unsere Arbeit und in sich selbst.

Ein letzter Gedanke zum Schluss.

Auch das KönzgenHaus versteht sich als solidarisch. Viele unserer Teilnehmer*innen, insbesondere Alleinerziehende, können sich unsere Seminare eigentlich nicht leisten, auch wenn es sich um bezuschusste Kursgebühren handelt. Für weitere Zuschüsse müssten sie sich eigenverantwortlich durch eine häufig undurchsichtige und wenig bekannte Landschaft an (wenigen) Fördermöglichkeiten suchen (Stichwort Bildung- und Teilhabe, Familienerholung etc.). Viele von ihnen sind dazu aufgrund der alltäglichen Belastungen nicht in der Lage. Oder aber sie schämen sich, ihre „Bedürftigkeit“ preiszugeben.

Wenige Angaben aber reichen uns, die prekäre Lage anzuerkennen. Aus unserer verbandlichen Position heraus wurde die politische Entscheidung getroffen – getragen von den Gesellschaftern und dem Aufsichtsrat – beson- dere Zuschusskriterien einzurichten, die jeder Familie eine Teilnahme ermöglichen. Diese Entscheidung wird getragen in einer Bildungslandschaft, in der Förderungen und Finanzierungen stetig gekürzt wurden und werden. Eine weitere Ungerechtigkeit, die nicht zur Realisierung von Chancengerechtigkeit durch Bildung und Teilhabe beiträgt.

Autorinnen

Laura Schudoma

Laura Schudoma

war von 2016 bis 2019 Pädagogische Mitarbeiterin für Politische Bildung und Familienbildung im KönzgenHaus, aktuell Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Erwachsenenbildung an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg

Annette Seier

Annette Seier

ist stellvertretende Geschäftsführerin des KönzgenHauses, Hauptamtliche Pädagogische Mitarbeiterin für Politische Bildung und Familienpolitik und Leiterin des Familienpädagogischen Instituts der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands (KAB)

Literatur

Bertelsmann Stiftung 2018: Kinderarmut hängt stark von Berufstätigkeit der Mütter ab. Online-Quelle (letzter Aufruf 07.01.2020)

BMFSFJ (2005): Zukunft: Familie. Ergebnisse aus dem 7. Familienbericht. Berlin

Dunkake, Imke (2010): Die Familie: Definition und Funktion. In: Dies.: Der Einfluss der Familie auf das Schulschwänzen. Theoretische und empirische Analysen unter Anwendung der Theorien abweichenden Verhaltens. Wiesbaden, S. 47-62

Jurczyk, Karin (2014): Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften. In: Anja Steinbach, Marina Hennig, Oliver Arránz Becker (Hrsg.) Familie im Fokus der Wissenschaft. Familienforschung. Wiesbaden, S. 117-140

Kadera, Stepanka/Minsel, Beate (2018): Elternbildung – Weiterbildung im familialen Kontext. In: Rudolf Tippelt, Aiga von Hippel (Hrsg.): Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung. Wiesbaden, S. 1253-1267

Peuckert, Rüdiger (2008): Familienformen im sozialen Wandel. 7. vollst. überarbeitete Auflage Wiesbaden

 

Foto von Maik Meid unter einer CC BY-SA 4.0 Lizenz